Kunst des Verstehens

 

„Eine Patientin könnte eines Tages zu mir kommen und mit der Klage beginnen: „Ich verstehe mich selbst nicht mehr“. Und sie könnte vielleicht verzagt hinzufügen: „ich weiß nicht mehr weiter und kann mir nicht erklären, warum“.

Was eine Patientin explizit sagen könnte, sagen alle Patienten tagtäglich, wenn sie uns als Psychotherapeuten aufsuchen. Immer drücken sie aus, dass sie mit ihrem Wissen am Ende sind und weder verstehen warum noch wozu das so ist. Und sie führen uns deutlich vor Augen, dass Verstehen im psychologischen Bereich viel mehr heißt als Erkennen und Wissen: Es heißt zugleich, mit den Dingen, dem Leben zurechtzukommen.

Menschen verstehen sich normalerweise selbst und wissen sich in einem mehr oder weniger großen Bereich selbst zu helfen, so wissen sie mit seelischem Leid zurecht zu kommen und haben Techniken gelernt, es zu behandeln. Die Breite des Selbstverstehens und die Feinheit der Selbstbehandlung sind wertvolle kulturelle Güter. Erst wenn sie versagen, hat das professionelle Verstehen seinen gerechtfertigten Einsatz.

Ihr Alltagsverstehen, ihre Alltagspsychologie versagt, wenn sie eine Psychotherapie suchen. Sie suchen Hilfe, wenn sie nicht mehr weiter wissen, wenn sie nicht einordnen und nicht verstehen können, was sie bewegt. Sie haben auch keine alltäglichen Mittel mehr, die weiterhelfen und das bedeutet, dass auch die Alltagspsychotherapie am Ende ist. Erst wenn dieses Reservoir erschöpft ist, wissen die Patienten nicht mehr weiter, sie wissen sich nicht mehr zu helfen und sie müssen sich an einen Experten wenden, der, zumindest wenn er psychodynamisch, gar psychoanalytisch ausgebildet ist, vom Versagen der alltäglichen Kompetenz ausgeht und dann versucht, diese Kompetenz wiederherzustellen.

Um dem Patienten weiterzuhelfen, müssen wir Psychotherapeuten selbst „Verstehen“ gelernt haben. Wir stehen mit dem Menschen zusammen vor der Aufgabe, das zuerst Unverständliche in verständlichen Zusammenhängen neu zu denken, d.h. zu verstehen. Die entscheidende psychotherapeutische Arbeit besteht oft darin, die selbstverständlichen alltagspsychologischen und alltagspsychotherapeutischen Konzepte der Patienten und Patientinnen in ihrer krankheitsbedingenden und -erhaltenden Funktion zu erkennen und dann zu transformieren.

Die Psychoanalyse setzt an den Lücken des Verstehens an, dort, wo die Ahnung aufkommt, dass das Versagen des Verstehens selbst einen Sinn hat. Unter Zusicherung strengster Diskretion wird ein Rahmen geschaffen, in dem die soziale Norm vorübergehend ausgesetzt ist. So können die Menschen frei über sich reden und sich einen anderen Zugang zu sich selbst gestatten. Die Psychoanalyse verlässt damit das Alltagsverstehen, stellt es in Frage und versucht seine Vorbedingungen und Vorurteile aufzudecken um schlussendlich zu ihm zurückzukehren.“

aus Hardt, Jürgen (2013). Methode und Techniken der Psychoanalyse. Psychosozial Verlag. S. 161, 162, 169